Schuh-e to go

Eigentlich wollte ich den heutigen Artikel am 6. Dezember veröffentlichen, ist doch mein heutiges müll-archäologisches Objekt eng mit dem Nikolaustag in Deutschland verknüpft: dem Schuh oder besser gesagt, den Schuhen.

Schuh anziehen-1812

Schuhe sind in Märchen bevorzugte Accessoires. Neben den gesammelten Märchen der Gebrüder Grimm, in denen ein gestiefelter Kater durch die Welt wandelt und sich Mädchen die Füsse oder Zehen abhacken, damit sie in Schuhe passen, widmete Hans Christian Andersen roten Schuhen ein Märchen und Dorothy erlaubten die roten Schuhe der bösen Hexe des Westens wieder nach Kansas zurückzukehren.

Seit Menschengedenken begleiten Schuhe den Menschen durch die Weltgeschichte. Einen sensationellen Fund machten Archäologen in Armenien, als sie einen Schuh ausgruben, der in das Jahr 3.500 vor der Zeitrechnung datiert und auch der allen wohl bekannte Ötzi trug 250 Jahre später mit Heu gefüllte Schuhe auf seinem Weg in die Ötztaler Alpen.

Heute trägt niemand mehr mit Heu gefüllte Schuhe. Schuhe gibt es in allen Größen, aus allen erdenklichen Materialien, es gibt große und kleine Schuhe, es gibt billige und teuere, es gibt Schuhe mit Absätzen, High Heels und ohne Absätze, es gibt Pantoffeln, Sandalen, vegane Schuhe, Gesundheitsschuhe, Badelatschen, Slippers, Schuhe mit Schnürsenkeln, mit Klettverschlüssen und es gibt sie in allen Farben und für jeden Anlass, Witze über Frauenschuhe gibt es auch, es gibt Pumps, es gibt Halbschuhe, Stiefel und Sportschuhe, es gibt Ballerinas und Fußballschuhe, auch gibt es Trachtenschuhe, Mokassins, Siebenmeilenstiefel  und Flamenco-Pumps, Schuhe gibt es für alle Wetter, es gibt Gummistiefel, Skischuhe, Sandaletten und Wanderschuhe.

 

Schuhe to go-5394

 

Kurzum: Jeder trägt sie. Ich habe heute niemanden gesehen, der sich ohne Schuhe auf der Straße befand. Aber einmal abgesehen von Brauchtum und Märchen erfüllen Schuhe einen ganz besonderen Zweck: sie schützen unsere Füße vor Verhornung, Verwundung, vor Hitze und vor Kälte, weshalb sich die Frage stellt, warum sich so viele herren- oder damenlose Schuhe im Stadtbild finden lassen.

Schuhe auf Fensterbänken könnten darauf hin deuten, dass man sich häufiger Geschenke vom Nikolaus wünscht:

 

Vollkommen obskur sind diese zwei Sandalen:

 

Die rechte Sandale [links im Bild] fand ich am 29.10.15 vor einer großen Saunalandschaft, so dass ich annahm, dass sie verloren wurde. Seit ich aber am 27.11.15 die passende linke Sandale drei Kilometer entfernt von der Saunalandschaft auf der Straße entdeckte, glaube ich nicht mehr daran, dass es sich hier um zwei unabsichtlich verlorene Gegenstände handelt, eher, dass die Besitzerin zeitversetzt aus den Latschen kippte.

Ebenfalls innerhalb kürzester Zeit entdeckte ich an ein und demselben Ort sehr gut erhaltene Schuhe, die mich zu der festen Überzeugung gelangen ließen, dass es sich um „Shoe-Sharing“ handelt. Die Deutsche Bahn hat ja auch feste Orte in der Stadt, wo man sich ein Fahrrad ausleihen kann, wieso sich also nicht auch Schuhe mit anderen teilen, wenn die eigenen Schuhe drücken.

 

Einzelne Schuhe werden hingegen exponiert zur Schau gestellt. Ich nehme an, dass ehrliche Finder den „einschuhig“ dahin humpelnden Verlierer nicht auf der Stelle treten lassen wollen und deshalb den Schuh gut sichtbar zur Schau stellen, damit er wieder gefunden werden kann.

 

Hier nahm der Catwalk ein vorzeitiges Ende oder das Model wollte sich den Schuh nicht anziehen.

 

Schuh anziehen-8241

 

Wenn Schuhträger ihren Stiefel durchziehen, kann das so aussehen: Entweder wollte hier jemand barfuß im Regen laufen oder sich im Berliner Flachland in der Königsdisziplin der Highland Games, dem Baumstammwurf (tossing the cabor), üben.

 

Viele Schuhe werden paarweise und ordentlich nebeneinander stehend abgestellt, als würden ihre Träger bald wieder kommen und erneut in die Schuhe schlüpfen.

 

Manchmal fühlt man sich leider nicht so fit wie ein Turnschuh und dann wirft man diese besser einfach weg.

 

Schuhe to go-6916

 

Fast alle bisher vorgestellten Fotos erwecken den Eindruck, dass die Schuhbesitzer die Schuhe nur abgestellt haben, um sie sich später wieder anzuziehen. Weniger häufig im Stadtbild sieht man Schuhe, die sich an einem Ort befinden, der eindeutig mit Abfall und Müll in Verbindung gebracht wird: dem Mülleimer.

 

Mich drückt der Schuh, dass ich einfach keine Erklärung dafür finde, warum sich ein Gegenstand, der für unser Wohlbehagen so wichtig ist, immer häufiger auf der Straße vergessen oder entsorgt wird.

Ich glaube auch nicht daran, dass die Schuhträger die Schuhe beim Laufen verloren haben, dafür sind es mittlerweile zu viele auf der Straße.

In der arabischen Welt können Schuhe als Symbol zur Verachtung anderer Personen verwendet werden, aber wir leben im christlichen Abendland. Wie steht es da mit der Symbolik? Ein Blick in das Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens lässt mir den Atem stocken, ist der Beitrag doch recht lang (Band 7, Spalte 1292-1352).

Eine mögliche Erklärung möchte ich zitieren, die sich für die Schuhe im Stadtbild anbietet:

„Diese alten Opfer wurden durch den Einfluß des Christentums oft zu Gaben an die Armen oder an die Kirche, durch die man sich selbst einen Vorteil verschafft. So ist der fromme Glaube verbreitet, daß man einmal im Leben einem Armen ein Paar Schuhe schenken soll, die man dann im Jenseits zum eigenen Gebrauch wieder findet.“ (Spalte 1336)

Dies wäre zumindest eine Erklärung, warum sich Schuhe in der Regel paarweise finden lassen. Der hoffentlich arme Finder kann die Schuhe weiterhin nutzen und der Spender muss im Jenseits nicht wie ein Sklave im Altertum barfuß laufen.

Aber wie heißt es so schön: „Was der Prähistoriker nicht kennt, er kultisch oder mythisch nennt“ – das gilt in diesem Fall auch für die Müll-Archäologie und so lassen sich die vielen Schuhe im öffentlichen Raum auch als Devotionalie für einen öffentlich praktizierenden Schuhfetischismus interpretieren. Ich hoffe, dass mir niemand die Schuld in die Schuhe schiebt, wenn ich mich hier irre.

Die beliebtesten Wegwerfartikel im Stadtbild sind immer noch die Pappbecher für den Kaffee to go und weggeworfene Schuhe sollten dann in Analogie dazu Schuh-e to go heißen.

PS. Die Notiz aus dem Handwörterbuch des Deutschen Aberglaubens (Band 7, Spalte 1345), „daß man ein Paar abgetragene Schuhe oder Pantoffel in das Gurkenbett vergraben muß, wenn man recht dicke Gurken haben will„, werde ich mir für das nächste Gartenjahr merken.

4 Gedanken zu „Schuh-e to go

  1. Ulla O.

    Daraus könnte man Schuhkunst machen! Meine Schüler fanden neulich beim Schule säubern ein paar Turnschuhe mit Hundekot – ist wegwerfen besser als säubern? Wir leben in Berlin!

    Antworten
  2. Sigrid

    Ich bewundere deinen offenen Blick, mit dem du durch die Welt gehst, und dann zu jedem „Schuh“ gleich eine passende Geschichte schreiben kannst.
    Ich habe auch schon öfter Schuhe – einzeln oder paarweise – an irgendwelchen Orten verlassen herumstehen sehen.
    Mich machte das immer nachdenklich, weil ich mir vorstellte, dass nun der Besitzer barfuss durch Berlin läuft. Merkwürdigerweise habe ich jedoch noch nie jemanden barfuss laufen sehen! Und dank dir, weiß ich nun, dass es noch viele weitere Gründe gibt, wenn ein Schuh oder gar ein „Pärchen“ irgendwo (scheinbar!) einsam und alleine herumstehen.
    So muste ich vorhin lachen und den beiden Nikes, die alleine vor den Borsigwerken standen, zublinzeln. Wahrscheinlich mussten sie den ganzen Samstag Nachmittag durch die Geschäfte laufen und haben nun einfach keine Lust mehr. Und das konnte ich verstehen! Und bevor meine Schuhe auch auf dumme Gedanken kämen, machte ich, dass ich nach Hause kam. Mit meinen Schuhen!

    Antworten
  3. Petra

    Nicht zu vergessen: Schuhe, vermutlich getragene Schuhe, damit sie auch ihre Wirkung voll entfalten, sind ein Heilmittel in der sogenannten Dreckapotheke: so wurde beispielsweise mit Rauch aus alter Schuhsohle und anderen Mitteln beräuchert oder eine Flüssigkeit eingeflößt, mit der man das Innere von Schuhen ausgewaschen hat. Gute Genesung!

    Antworten

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert