Bequemlichkeit

Gestern war ich über die Forschungsbörse an einer Hamburger Grundschule für einen müll-archäologischen Workshop eingeladen. Müll-archäologische Workshops sind immer ergebnisoffen und ich selbst bin immer sehr gespannt, was wir in den Workshops so alles entdecken.

Diesmal gab es ein ganz besonderes Ergebnis, das ich hier noch ein wenig exemplarisch ausweiten möchte, um aufzuzeigen, dass Müll-Archäologie eine durchaus ernsthafte Wissenschaft ist, die in vielen Bereichen des menschlichen Lebens zur Anwendung kommen kann.

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Im Workshop beschäftigten wir uns mit dem Müllverhalten der Schüler auf dem Schulgelände. Bei meiner ersten Inspektion des Schulhofes war ich ein wenig ratlos, weil ich so gut wie keinen Müll entdecken konnte. Aber es kam anders!

Das Schulgelände konnte in zwei Bereiche eingeteilt werden: einen asphaltierten und einen begrünten Bereich. Geschätzt würde ich sagen, dass die Grünflächen, die den Schülern zum Spielen zur Verfügung stehen, den etwas größeren Teil des Schulgeländes darstellen.

Wir haben zehn Mülleimer auf dem Schulhof gezählt und festgestellt, dass alle Mülleimer im asphaltierten Bereich aufgestellt sind.

Dann haben wir den Müll im asphaltierten Bereich und den Müll auf den Grünflächen gesondert gesammelt.

Das Ergebnis hat mich umgehauen.

Wir konnten feststellen, dass im Asphaltbereich, also dort, wo die Mülltonnen aufgestellt sind, diese auch genutzt werden und nur sehr wenig unsachgemäß entsorgter Müll zu finden war. Dafür haben die Schüler im Grünflächenbereich der Schule zehn Mal mehr Müll aufgesammelt als im Asphaltbereich.

Für mich, die ich jeden Müll auf der Straße versuche zu analysieren bzw. zu verstehen, ist dieses Ergebnis eine ganz logische Sache. Auch die Erwachsenen werfen die Dinge, die ihnen wertlos geworden sind, einfach auf die Straße, wenn kein Mülleimer in der Nähe ist oder man dafür sogar die Straße wechseln muss. Wie können wir dann von Kindern erwarten, dass sie ihr Spiel unterbrechen, um den Müll in den vielleicht 50 Meter entfernten Mülleimer zu entsorgen? Das Zauberwort heißt:

BEQUEMLICHKEIT

Der russische Physiker Orest Danilovič Chvol’son (1852-1934) schreibt in ‚Die Physik und die Bedeutung für die Menschheit‘:

„Mithin bleiben nur zwei Hauptziele übrig, nach denen die Menschen streben: zwei Hebel sind es, die fast alle Taten der Menschen beherrschen: das Streben nach Bequemlichkeit und das Streben nach Erkenntnis. … Wenden wir uns zunächst dem ersten Hebel zu, der zwar nicht wichtiger ist als der zweite, insofern aber die Hauptrolle spielt, als er die Taten aller Menschen ohne Ausnahme beherrscht. Das Streben nach Bequemlichkeit regiert gebieterisch das menschliche Geschlecht, erfüllt sein Leben, dringt in alle unzähligen Abzweigungen jener Kanäle ein, in denen die Tätigkeit der Menschen dahinströmt.“ Chvol’son sieht die Bequemlichkeit auch unter dem ganz besonderen Aspekt, der  „Wissenschaft, Technik und Industrie zu fruchtbarer Betätigung anregt.“

Als ich gestern nach Berlin zurück kam, habe ich mich mal wieder nach den Mülltonnen im öffentlichen Raum umgesehen. Entweder sah ich ganz viele auf engstem Raum oder weit und breit war kein Mülleimer auszumachen, so dass man viele Meter laufen muss, um seinen Müll los zu werden. Von Schülern, nicht nur denen in Hamburg, wird erwartet, dass sie ihren Müll ordentlich entsorgen, aber aufgestellt werden die Mülltonnen so, dass deren Entsorgung für die Erwachsenen bequem vonstatten gehen kann.

Also habe ich mich als Feldforscherin in meiner Straße betätigt, da es mir unmöglich erschien, alle 22.000 ‚Papierkörbe‘ der BSR in Berlin zu kartieren. Es gibt noch weitaus mehr dieser so genannten Papierkörbe in Berlin, aber zum Beispiel sind in den Parks auch die Grünflächenämter dafür verantwortlich. Die Fragestellung lautete: Sind die Mülleimer in der Wilhelmshavener Straße so angeordnet, dass der Bürger sich seines Mülls bequem entledigen kann?

Die Wilhelmshavener Straße ist ca. 880 Meter lang, im Süden grenzt sie an die Turmstraße, im Norden an die Quitzowstraße. Insgesamt befinden sich auf der West- als und Ostseite der Wilhelmshavener Straße 18 orange Behältnisse.

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Wie die Skizze zeigt, sind auf der Westseite der Wilhelmshavener Straße insgesamt zehn Mülleimer angebracht, auf der Ostseite hingegen nur acht.

Abstand zwischen den Mülleimern:

Westseite                                                                                    Ostseite

M 1 – M 2 = 100 m                                                                    M 11 – M 12 = 230 m

M 2 – M 3 =   90 m                                                                    M 12 – M 13 = 110 m

M 3 – M 4 = 140 m                                                                    M 13 – M 14 =   66 m

M 4 – M 5 = 130 m                                                                    M 14 – M 15 = 150 m

M 5 – M 6 =   10 m                                                                    M 15 – M 16 = 100 m

M 6 – M 7 = 200 m                                                                    M 16 – M 17 =   10 m

M 8 – M 9 =   10 m                                                                    M 17 – M 18 = 110 m

M 9 – M 10 = 35 m

 

Angenommen ich möchte 100 Meter hinter der Mülltonne Nr. 11  in Richtung Mülltonne Nr. 12 etwas entsorgen, vielleicht Hundekot, eine Zigarettenkippe, einen Pappbecher oder … . Drehe ich mich jetzt um und laufe die 100 Meter bis zum Mülleimer zurück? Nein, dies werde ich garantiert schon aus Bequemlichkeit nicht tun, denn dann würden ja im Endeffekt aus 100 Meter 300 Meter. Wechsel ich die Straßenseite, denn es gibt ja dort den Mülleimer Nr. 2? Auch dazu bin ich zu faul, falls ich den Mülleimer überhaupt sehe, nein, dann muss ich ja die Straße überqueren, was wiederum Arbeit in Form von mehreren Schritten bedeutet. Laufe ich mit meinem wegzuwerfenden Gegenstand in der Hand die restlichen 130 Meter bis Mülleimer Nr. 12? Eher nicht, denn dazu bin ich viel zu bequem. Also, wohin mit dem Müll? Richtig: die Baumscheibe bietet sich als Entsorgungsort an, zumal auch nicht alle Gegenstände aufgrund ihrer Größe in die Papierkörbe passen.

 

Abgesehen von diesen kleinen hypothetischen Überlegungen frage ich mich, nach welchem Prinzip die Mülleimer in der Wilhelmshavener Str. angebracht wurden, Mülleimer gibt es ja genug.  Es gibt kein erkennbares Muster, weder eines, das sich an den Örtlichkeiten, wie zum Beispiel den Querstraßen orientiert noch deuten die Abstände zwischen den Mülltonnen auf irgendeine Regel hin und warum gibt es auf der einen Straßenseite zehn Entsorgungskästen und auf der anderen nur acht? Was nützen vier Mülleimer im Kreuzungsbereich Wilhelmshavener Straße / Bugenhagener Straße? Mehr Menschen als im Rest der Straße halten sich dort auch nicht auf. Vielleicht müsste die Frage lauten: Cui bono – Wem nützt das? Auf alle Fälle nützt es den BSR-Fahrzeugen, welche die Mülltonnen entsorgen, die müssen für vier Mülleimer nur ein Mal anhalten.

Eigentlich sollte der Gedanke von Orest Danilovič Chvol’son,  dass „das Streben nach Bequemlichkeit gebieterisch das menschliche Geschlecht regiert“, Allgemeingut für Politiker, Stadtplaner, Architekten …  sein, auf dass sie ‚zu fruchtbarer Betätigung anregt‘ werden.

Ich danke den Schülern und Lehrern der Hamburger Schule ganz herzlich für die Einsicht und Erkenntnis, zu der ich durch den Workshop an ihrer Schule gelangen konnte.

 

 

 

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